Gastautor: Björn Erik Gustavsson
Eine ältere Frau am Kiosk im Chemnitzer Hauptbahnhof schnaubt laut, als die Person vor ihr ihre Zigaretten holt und geht.
-Hast du das gesehen? Typisch junge Leute, so unhöflich zu sein. Zu DDR-Zeiten war das anders.
Zwischen 1953 und 1989 hieß die Stadt Karl-Marx-Stadt und lag in Ostdeutschland. Im Herbst 1989 fiel der Eiserne Vorhang - und kurz darauf wurde aus Chemnitz wieder Chemnitz.
Im nächsten Jahr wird die Stadt Kulturhauptstadt Europas sein. Die offizielle Eröffnungsfeier und die Straßenfeste finden am 25. Januar statt.
Chemnitz - am Rande des mineralreichen Erzgebirges gelegen - war lange Zeit eine der wichtigsten Industriestädte Deutschlands, die sich auf die Textilindustrie und den Maschinenbau spezialisiert hatte. Doch seit den 1990er Jahren, als die ehemals volkseigenen Industrien privatisiert wurden, haben viele Fabriken geschlossen - oder die meisten ihrer Beschäftigten entlassen. Die Ernennung zur Kulturhauptstadt könnte für eine Stadt, die seit den 1990er Jahren nach neuen Wegen sucht, viel bedeuten.
Die diesjährige große deutsche Tourismusmesse GTM fand in Chemnitz statt. Vertreter der lokalen Tourismusorganisationen betonten, dass ein Großteil der kulturellen Investitionen im Dialog mit der Bevölkerung getätigt wurde und dass sie in Dinge investieren wollen, die der Stadt auch langfristig zugute kommen.
Viele Vorbereitungen sind im Gange. Mindestens 100 Projekte und 1.000 Veranstaltungen sind geplant. Und auf einem 26 Hektar großen Gelände entsteht das größte Eisenbahnmuseum Deutschlands. Die örtlichen Tourismusbehörden erwarten im nächsten Jahr mindestens zwei Millionen Besucher.
Weitere Informationen über das kommende Kulturhauptstadtjahr finden Sie unter www.chemnitz2025.de
Bereits 1822 wurde in Chemnitz eine Dampfmaschine in Betrieb genommen, und im Laufe des 19. Jahrhunderts verdreifachte sich die Einwohnerzahl im "Manchester von Deutschland".
Große Teile des Stadtzentrums wurden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs durch alliierte Bombenangriffe vollständig zerstört. Der Teil Deutschlands, der in die russische Einflusssphäre fiel, wurde in die kommunistische DDR (Deutsche Demokratische Republik) umgewandelt.
Die Fabrikstadt Eisenhüttenstadt wurde 1953 zur "sozialistischen Musterstadt" erklärt und in Stalinstadt umbenannt. Im selben Jahr wurde Chemnitz in Karl-Marx-Stadt umbenannt. Die zerbombte Innenstadt wurde gesäubert, um als eine Art kommunistische Idealstadt wiedergeboren zu werden, die durch breite Alleen und riesige Gebäude im sowjetischen Stil gekennzeichnet war.
Das heutige Chemnitz erinnert mit seiner vielfältigen Bebauung an Berlin: Unterschiedliche historische Epochen spiegeln sich in einer gebrochenen und abwechslungsreichen Stadtlandschaft wider. In den Vororten - die von den verheerenden Bombenangriffen im Frühjahr 1945 verschont blieben - finden sich schöne Patriziervillen und von Gartenstadtutopien des späten 19. Jahrhunderts geprägte Viertel, aber auch Fabrikgebäude, Jugendstilhäuser und kühne Bauhausmoderne.
Entlang der ostdeutschen Aufmarschplätze sind riesige Einkaufszentren entstanden, in denen Wandmalereien erhalten geblieben sind, die den Erfolg des Arbeiterstaates idealistisch illustrieren.
Der Reiseleiter erzählt uns, dass er im Herbst 1989 nach Ungarn reiste und von dort aus in den Westen floh: Mitten in der Nacht schwammen sie über die Donau und konnten unentdeckt nach Österreich einreisen. Heute ist er zurück in der Stadt: Karl-Marx-Stadt, jetzt Chemnitz, in einem anderen Land: dem vereinigten Deutschland.
In den 1930er Jahren lebten hier bis zu 400 000 Menschen, aber nach dem Weltkrieg, dem Kommunismus und der massiven Auswanderung ist die Bevölkerung auf knapp 250 000 gesunken.
Im besten Fall kann das Kulturhauptstadtjahr neue Hoffnung für die Zukunft geben. Mit vergleichsweise niedrigen Wohnungspreisen und dem Potenzial zur Umnutzung alter Industrieflächen könnte Chemnitz vor allem für junge Menschen, Unternehmer und Künstler zunehmend attraktiv werden.
Das Potenzial ist vorhanden.
Die Spuren der DDR-Zeit sind im Stadtbild noch sichtbar. Die von einem sowjetischen Künstler geschaffene Karl-Marx-Statue, die auf einem Sockel aus ukrainischem Granit steht, beherrscht die Brückenstraße. Der Text im Hintergrund ruft in vielen Sprachen alle Arbeiter der Welt zum Zusammenschluss auf.
Die Umgebung der Stadthalle und des benachbarten Kongresshotels ist eine Zeitmaschine: Sie versetzt einen zurück in die städtebaulichen Träume der frühen 1970er Jahre. Das Gleiche gilt für die riesige Fritz-Heckert-Siedlung: ein einheitliches, von Beton dominiertes Viertel, das für 90 000 Ostdeutsche gebaut wurde.
Die Stadt hat viele Attraktionen zu bieten. Neben den Kunstmuseen veranschaulicht das große Industriemuseum, wie das kleine Chemnitz im 19. Jahrhundert zu einer der größten und wichtigsten Industriestädte des Landes wurde. Das Haus der Archäologie, das in einem funktionalistischen Kaufhaus aus den 1930er Jahren untergebracht ist, zeigt die früheste Geschichte der Region, und das stilvolle Stadtbad, eine Mischung aus Modernismus und Neoklassizismus, ist intakt geblieben. Bei seiner Eröffnung im Jahr 1935 wurde es als "größtes und schönstes Hallenbad Europas" beworben.
Einige haben sowohl den Nationalsozialismus als auch den Kommunismus überlebt - wie die lebendige Goethe-Gesellschaft der Stadt, die nach wie vor spannende Kulturprogramme organisiert und jährlich ein "Sommerfest im Grünen" veranstaltet. Das Fest findet am 28. August statt - Goethes Geburtstag.
Kulturinteressierte Besucher sollten sich das Opernhaus nicht entgehen lassen. Ursprünglich 1909 eröffnet, nach dem Krieg wieder aufgebaut und seit 1992 in seiner heutigen Form. Hier finden Oper, Theater, Ballett und Konzerte statt.
Chemnitz ist umgeben von einer sanften Hügellandschaft mit alten Dörfern, Wäldern und Bergen, in der es viele Wanderwege gibt. Wer diese Caspar-David-Friedrich-romantische Landschaft genießen möchte, dem steht eine Reihe von Wanderwegen zur Verfügung. Ein idyllisches Städtchen an der tschechischen Grenze ist die hochgelegene alte Bergstadt Annaberg, seit dem 16. Jahrhundert Zentrum eines umfangreichen Bergbaus. Und im nahe gelegenen Zwickau können Sie eines der größten Automobilmuseen des Landes besuchen, das August Horch Museum, in dem die ersten Audi sowie der spätere Zweitakt-Trabant gebaut wurden. Außerdem gibt es in der Stadt ein spannendes Robert-Schumann-Museum.
Text und Foto: Björn Erik Gustavsson
Anna Nilsson Spets sagte:
Sehr interessanter Beitrag über einen mir unbekannten Ort,
Willkommen in der Gemeinschaft der Gastblogger.
Anna
15. August 2024 - 6:05
Nur Briten sagte:
Und etwas außerhalb liegt das kleine Zschopau, wo MZ-Motorräder hergestellt wurden, die leider die Auflösung der DDR nicht überlebt haben, obwohl sie im Westen recht beliebt waren. Mein Mann hatte ein Paar und es gab mehrere englische MZ-Clubs. Ein Mitglied eines DDR-Clubs erzählte seinen englischen MZ-Freunden, dass er die Grenze in den Westen überquert hatte, bevor wir hier in den Nachrichten erfuhren, dass die Grenze geöffnet worden war. Da schaudert es einen...
15. August 2024 - 21:02
Monica sagte:
Sehr interessanter Beitrag und Erinnerung daran, wie die Welt ist und immer war. Aber dass die Menschen sich wieder aufraffen und auf die Zukunft bauen, ist faszinierend, weil niemand weiß, ob es getan werden kann, aber getan werden muss.
Ich freue mich, dass sie Kulturhauptstadt wird.
Und es wird wieder einmal deutlich, dass in Schweden in großen Wohngebieten im ganzen Land so viel im alten sowjetischen Stil gebaut wurde.
16. August 2024 - 10:59